Die Erinnerung an den Prozess des Sokrates 399 v. Chr. schuf zwei
Angeklagte: Sokrates, der sich vor seinen athenischen Richtern zu
verantworten hatte und das athenische Gericht, das sich für seinen
Spruch vor der Weltgeschichte zu verantworten hat. Eine
rechtswissenschaftliche Analyse legt nahe, dass die athenischen
Richter kaum ein rechtlicher Vorwurf für ihr Urteil trifft. Die
beiden Anklagen wegen Gottesfrevel und Verführung der Jugend lassen
sich aus einer modernen Perspektive des verfassungsrechtlich
begründeten Demokratieschutzes interpretieren, wonach die Richter
das öffentliche Wirken des Sokrates als reale Gefährdung für die
religiös fundierte demokratische Verfassungsordnung ansahen.
Sokrates provozierte nicht nur seinen Schuldspruch. Durch seine
Weigerung, keinen oder jedenfalls keinen ernst gemeinten Antrag zu
stellen, blieb den Richtern nur die Möglichkeit, dem Antrag der
Ankläger zu folgen. Dennoch, Sokrates' Tod steht als Erinnerungsort:
Für die Freiheit der Philosophie, des radikalen Denkens und Fragens,
für Sokrates als den Begründer der neuzeitlichen Philosophie - und
damit auch für die Anfechtbarkeit des Prinzips streitbarer
Demokratie?
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