Gymnasium 111 (2004)
Th. Gärtner: Die Mytilene-Debatte im thukydideischen Geschichtswerk

In der Mytilenedebatte im dritten Buch des Thukydides sucht Kleon, der Sohn des Kleainetos, mit einer demagogischen Rede die Auslöschung der ganzen Stadt Mytilene als Strafe für den versuchten Abfall vom Attischen Seebund zu rechtfertigen. In der Art, wie sich Kleons letztlich erfolgreicher Kontrahent Diodotos in seiner Gegenrede gegen die kollektive Strafmaßnahme wendet, lassen sich deutliche Spuren der später von Aristoteles in seiner Rhetorik durchgeführten Gattungsscheidung nachweisen: Eine "symbuleutische Rede" darf sich nur auf das Argument der Nützlichkeit berufen, während andererseits eine Gerichtsrede auf den Aspekt der Gerechtigkeit beschränkt werden muß. Diodotos zeigt, daß in Kleons Rede beide Aspekte unzulässigerweise vermengt werden und daß sie insofern methodisch verkehrt angelegt ist. Dagegen läßt sich in einer anderen thukydideischen Antilogie, nämlich der zwischen Kerkyräern und Korinthern im ersten Buch, eine weniger strenge Gattungsauffassung beobachten, die es ermöglicht, in einer beratenden Rede sowohl Nützlichkeits- als auch Gerechtigkeitsargumente nach Bedarf heranzuziehen, und die später ihre Entsprechung in der rhetorischen Lehrschrift des Anaximenes von Lampsakos findet.
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