In der Mytilenedebatte im dritten Buch des Thukydides sucht Kleon,
der Sohn des Kleainetos, mit einer demagogischen Rede die
Auslöschung der ganzen Stadt Mytilene als Strafe für den versuchten
Abfall vom Attischen Seebund zu rechtfertigen. In der Art, wie sich
Kleons letztlich erfolgreicher Kontrahent Diodotos in seiner
Gegenrede gegen die kollektive Strafmaßnahme wendet, lassen sich
deutliche Spuren der später von Aristoteles in seiner Rhetorik
durchgeführten Gattungsscheidung nachweisen: Eine "symbuleutische
Rede" darf sich nur auf das Argument der Nützlichkeit berufen,
während andererseits eine Gerichtsrede auf den Aspekt der
Gerechtigkeit beschränkt werden muß. Diodotos zeigt, daß in Kleons
Rede beide Aspekte unzulässigerweise vermengt werden und daß sie
insofern methodisch verkehrt angelegt ist. Dagegen läßt sich in
einer anderen thukydideischen Antilogie, nämlich der zwischen
Kerkyräern und Korinthern im ersten Buch, eine weniger strenge
Gattungsauffassung beobachten, die es ermöglicht, in einer
beratenden Rede sowohl Nützlichkeits- als auch
Gerechtigkeitsargumente nach Bedarf heranzuziehen, und die später
ihre Entsprechung in der rhetorischen Lehrschrift des Anaximenes von
Lampsakos findet.
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