Obwohl die antike Literatur eine Fülle von Gruselgeschichten bietet,
hat die Forschung sich diesen Episoden (die sich freilich nie zu
einer eigenständigen literarischen Gattung entwickelt haben) bislang
kaum gewidmet. Dieses mangelnde Interesse ist nicht angemessen, denn
antike Gruselgeschichten bieten durchaus sowohl für Philologen als
auch für Althistoriker wichtige Anknüpfungspunkte für weitere
Forschungen. Zum einen lassen sie sich als bisher vernachlässigte
Quellen zu bestimmten Begebenheiten sowie zu einzelnen Aspekten des
antiken Alltags und der antiken Kultur heranziehen. Zum anderen
dienten sie aufgrund ihrer eigentümlichen Stellung zwischen
Fiktionalität und Nichtfiktionalität im Altertum als zentrale
Kristallisationspunkte für gelehrte literaturtheoretische Debatten
zum Thema 'Wahrheit und Lüge'. Dabei bildeten sie ein
Verbindungsglied zwischen solchen Diskussionen und einem
gravierenden realhistorischen Problem, mit dem vormoderne Gesellschaften
prinzipiell konfrontiert sind: Der Frage nach Wahrheit und Lüge in
Berichten anderer sowie nach Kriterien für Glaubwürdigkeit bzw.
Unglaubwürdigkeit.
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