Gymnasium 108 (2001)
Klaus Sallmann: Der Mensch und 'seine' Natur

Die Studie ruft ein stets auch in der Schule aktuelles Reizwort auf: die 'Natur' und die Vielschichtigkeit dieses Missverständnissen und Missbräuchen ausgesetzten Begriffs. Klärend definieren die römischen Vertreter der hellenistischen Philosophie, also der Stoa (Seneca, Plinius maior), des Kepos (Lukrez) und der vergleichenden Synopse (Cicero) natura (mit nominalem Genitiv wie rerum natura) übereinstimmend als 'Beschaffenheit', allerdings mit der Konnotation des Eingebundenseins in einen kosmischen Gesamtzusammenhang; dieser kann als Gott/Schöpferkraft (Stoa) oder als autonomer Materieorganismus (Kepos) verstanden werden. Über die poetische Prosopopöie dieser Natura (Lukrez) hinaus wird erstmals bei Plinius der Weg der Natur zu einer personifizierten Instanz sichtbar, der der Mensch mit Ehrfurcht und Verantwortlichkeit wie seiner Mutter gegenübersteht, die er aber auch durch unkontrollierte Ausbeutung zerstören und missbrauchen kann. - Das begriffliche Dilemma entsteht erst, wenn man auch das als Natur bezeichnet, was der Mensch mit Kunst und Technik bewusst 'renaturiert' (Forste, 'Naturparks', rückgezüchtete 'Naturformen' von Fauna und Flora), auch bei sich selbst (Verjüngung, Bodybuilding u.ä.). Gibt es 'kultivierte Natur' (A. Mitscherlich, H. Markl)? Noch komplizierter wird es, wenn man die technische Entwicklung der Menschheit als Realisierung und Entfaltung seiner Natur begreift und Zivilisation, Kunst und Philosophie, von extremen Auswüchsen abgesehen, als 'natürlich' einstuft (K. Lorenz; in anderer Weise H. Jonas). Menschennatur versus Allnatur? Es entsteht die Frage: Gibt es eine 'objektive Natur' überhaupt oder ist diese nur die Projektion menschlicher Idealvorstellungen in die Umwelt? Jedenfalls erfasst der Trend zur Entropie in der Natur (der sog. lukrezische Pessimismus) auch alle Kulturgüter und uns selbst, ungeachtet aller - letztlich vergeblichen - Abwehr- und Verlangsamungserfindungen, Produkte unserer Todesangst (Lukrez). Aber der 'Reiz der Vergänglichkeit' (M. Dekkers), d.h. die Akzeptanz der natürlichen Vorgänge kann den Menschen und seine Kultur mit der Natur versöhnen durch die Einsicht, dass auch der äußere Untergang unserer Geistesprodukte nichts Schlimmes, sondern etwas Notwendiges ist.
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